Als wir, wobei zu sagen ist, dass mit wir meine gesamte Klasse gemeint ist, zur Zehnten in die Oberstufe wechselten, was im Internat einen Umzug in ein neues 40km entferntes Schulgebäude bedeutet, war es nach nicht mehr als drei Wochen so, dass alle unsere Jahrgangsstufenjungs Alkoholverbot hatten.
Wobei zu sagen ist, dass Alkoholverbot eines der schlimmeren Internatsverbote ist insbesondere, da diese neue Freiheit, denn in der Unterstufe ist das Alkoholtrinken nahezu gänzlich verboten, sehr geschätzt wurde. Wie das so mit neugewonnene Freiheiten ist wurde diese bis zum Rand ausgereizt und nach mehreren Randüberschreitungen eingestellt – von der Lehrkörperschaft.
Somit wurde das gelegentliche Alkoholtrinken auf den roten Platz verlegt, wobei zu sagen ist, dass der rote Platz roter Platz heißt, weil es ein Basketballplatz mit rotem, leicht federndem Grund ist.
Wenn ich also des Nächtens ein erschöpftes Kratzen an meiner hölzernen Zimmertür vernahm, wobei zu sagen ist, dass Lehrer klopfen und Schüler kratzen, konnte ich fast sicher sein, dass es einer unserer Jungs war: „Duuuuuuuhu Lies, kannst du mal MF von roten Platz abholen, der ist da noch.“
MF ist einer meiner liebsten Schulfreunde und der auffälligste Betrunkene, den sich die Welt vorstellen kann.
MF abholen gehört somit nicht wirklich zu meinen favorisierten nächtlichen Beschäftigungen, da aber nach Alkoholverbotsverstoß, Suspendierung und Kündigung folgt, werfe ich mir über meinen Schlafanzug einen Bademantel, wickle mich in einen Schal, ziehe Schuhe an und verlasse das Schloss. Wobei zu sagen ist, dass mein ehemaliges Internat auf einer stattlichen Anhöhe umgeben von Wald liegt und eben ein Schloss ist.
Je nach Wegwahl geht man auf dem Weg zum roten Platz an drei bis fünf Lehrerwohnungen vorbei, alle mit unterschiedlicher Gefahrenzone, auf jeden Fall aber am Torhaus, dem B-Heim und der Turnhalle und somit weiteren drei Lehrerwohnung, dann ein Stück durch den Wald (toll wenn man nahezu nachtblind ist) und dann noch einmal abbiegen und schon ist man da, im Hellen dauert es rund acht Minuten im Dunkeln brauche ich rund zwölf.
Für den Rückweg… Dazu später mehr.
Auf dem roten Platz sitzt MF zwischen einigen leeren Bierdosen und summt ein Partylied. „Schön, dass du da bist Lies. Hier geht voll die Party…“ „MF, du bist allein.“ „Die kommen alle zurück, die sind nur kurz – ei, wo sind die denn alle?“ „Max wir gehen jetzt ins Bett!“ „In dein Bett?“, MF ist vollkommen schockiert, denn er steht weniger auf mich als mehr auf den blonden burschikosen Typ Frau. „Nein, ich in meins und du in deins.“ „Das ist gut!“, er ist beruhigt und wir tingeln los.
Der Waldteil ist der harmlose Teil.
Kurz vor der Turnhalle beginne ich zu flüstern: „Max? Wir spielen jetzt ein Spiel wir sind jetzt mal ganz leise!“, lang erprobt beginne ich den Kampf einen gut-angeheiterten MF mit dem Drang zum Auffallen an gefühlt dreihundert Millionen Lehrerwohnungen vorbei in sein Zimmer zu schleusen. Max summt: „Wir sind ganz leise, ganz leise…“, dies tut er glücklicherweise ebenfalls ganz leise, ganz leise. 27Meter nach der ersten Lehrerwohnung, der Sportlehrerwohnung in der Turnhalle (fast zu Klischee um wahr zu sein), direkt vorm B-Heim und somit Lehrerwohnung zwei, Lehrer und Lehrerin mit drei kleinen Kindern, der Stelle unser beschwerlichen Reise mit den wenigsten Versteckmöglichkeiten, denn vor uns ist eine Brücke und hinter uns nur ein gut einsehbarer Minispielplatz beginnt MF erneut mit einem „wir sind ganz leise, wir sing ganz leise“, nur singt er nicht mehr ganz so leise sondern weder schön noch leise dafür aber aus vollem Hals.
„Neues Spiel, jetzt laufen wir…“, ist meine Ansage dazu und renne MF ziehend bis zum Tor.
Gefühlte drei Millionen Lehrerwohnungen weniger drei. Ich wähle wie meist nicht den Weg mit den wenigsten Lehrerwohnungen, sondern den mit den am wenigsten gefährlichen Lehrerwohnungen. Im dritten Stock des Schlosses befinden wir uns quasi auf der Zielgerade. Ich drücke die Türklinke und nichts passiert, meine Augenbraue geht hoch und ein Wo-ist-der-Schlüssel-Blick zu MF. „Weißt du, wenn ich betrunken bin verlier ich doch immer meinen Schlüssel, deshalb habe ich ihn drin gelassen.“
Grundsätzlich keine schlechte Idee, wäre da nicht der Mitbewohner HB, der um das Spiel des Betrunkenendekorierens weiß und nachdem er – ohne MF – die Party verließ, die Zimmertür mit sich dahinter abschloss. „Du bleibst hier.“, ordne ich im Flüsterton MF an, der sich inzwischen vor die Tür gesetzt hat. Er nickt und ich hole einen Wecker.
Durch einen schmalen Zwischengang gehe ich auf den Balkon der zu drei Schülerzimmern, MFs und HBs eingeschlossen, ich stelle mich auf den Fenstersims und halte den klingelnden Wecker durch das gekippte Fenster. Es klingelt. „Eine Lichtgestalt, eine Lichtgestalt“, ruft HB mir vom oberen Teil des Stockbettes zu. „Lies warum bist du denn so eine Lichtgestalt?“, ja Alkohol tötet Gehirnzellen, hinter mir glimmt eine Laterne, die dort immer glimmt. „HB, MF hat keinen Schlüssel, lass ihn mal bitte rein.“ HB klettert vom Stockbett, nachdem er fast unten ist, klettere ich vom Fenstersims, gehe zurück zu MF und warte auf ein Klinkenklicken, nichts klickt. „Schlafen wir jetzt doch bei dir?“
Und alles wieder zurück auf Anfang, durch den schmalen Zwischengang, Fensterbank, der Wecker, das geöffnete Fenster, „eine Lichtgestalt, eine Lichtgestalt“ (nur diesmal eben aus dem unteren Teil des Stockbettes, denn genau so weit war HB wenigstens schon gekommen.
Und endlich – mindestens eine Stunde nach dem Loslaufen – ein lang ersehntes Klinkenklicken…
…
Nachtrag: „Wobei zu sagen ist…“ dient heute als allumfassendes Stilmittel zur Einbindung von Internatsinterna, die zum Verständnis der Geschichte von Nöten sind….