Archive for the ‘Internatsgeschichten’ category

schlaf gut, Jo

Dezember 31, 2011

Als ich 2006 aufs Internat kam gab es einen Mann – Jo. Jo war eine sonderbare Art von Lehrer, aber Internate brauchen sonderbare Arten von Lehren. Er ging mit uns in den Wald, soweit ich mich erinnere war er Biolehrer. Mit einer Horde von vollpubertierender Sechstklässer wanderten wir auf der Laufrunde, gesäumt von mittelhessischem Grün. Jo erzählte welche Blätter, Pflanzen, Raupen essbar waren – mit Vorführung. Ich erinnere mich nicht, dass je einer seinem Vorbild nachgekommen ist, zumindest nicht was die Raupen angeht, aber alle erinnern sich an das Raupenessen. Dieses Raupenessen ist so tief im Gedächtnis verwurzelt, dass ich nicht beschwören könnte, dass Jo je wirklich vor mir eine Raupe gegessen hat oder ob es eher Kollektivgedächtnis ist.
Fakt ist – Raupen oder nicht Raupen – dieser Mann war so viel Teil des Internats, dass man den Teil weglassen kann. Jo war Internat. Selbst nach seinem Weggang spukt sein Geist in allem. Wenn ich die Sportpiktogramme der Tagesschau sehe, von denen gerüchteweise erzählt wird, Jo hätte die Idee oder die Grundskizze für sie gelegt; bei einem Blick auf die alte Hausordnung, die mit seinen kleinen Männchen geschmückt war und in jedem Schülerflur hin, er war eine Institution.
Institutionen sterben nicht. Und doch ist diese eingeschlafen, friedlich, ruhig und glücklich, wie seine Familie zu berichten wusste. Vielleicht – wie in meiner Erinnerung – immer mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen.

Schlaf gut, Jo. Träum schön Jo.

3:1

Juni 14, 2011

11 + 7 = 18

9 – 7 = 2

6 + 5 = 12

3 + 4 = 7

17 – 4 = 13

Wenn Sie so ticken, wie fast alle Menschen, dann werden Sie kaum feststellen, dass da vier richtige Rechnungen sind, sondern eher feststellen, dass da eine falsche Rechnung ist. Ich las, dass das ein genetischer Urinstinkt ist um Gefahren schnell zu erkennen und sie umgehen zu können. Das ist Biosoftware anno minus 2000 vor Christus. Heute: Das umtrainierte Gehirn erkennt schnell die Unregelmäßigkeiten, Widrigkeiten, Unschönheiten und Fehler des Lebens, die Masse der (Rest)Schönheiten übersehen wir schnell.

3:1 eigentlich 4:1

Meine Mädelstruppe ist super. Bis auf Nathalie. Nathalie ist täglich zu spät, meist nur wenige Minuten, aber doch täglich, bei freiwilligen Aktionen erscheint sie nicht – aber wer will ihr das zum Nachteil machen – und Samstag ebenfalls nicht.

Samstag = Projekt als Pflichtveranstaltung bis mittags um eins. Ich bin wütend. Das ändert sich auch nicht als Vinzenz mir beim Mittagessen erzählt, dass sie sich ganz fürchterlich schlecht fühlt und krank ist. Das ändert nichts, denn ich weiß längst, dass sie bis morgens um sechs feiern war. Feiern ist okay, aber nur wenn Aufstehen und zum „Unterricht“ gehen folgt. Ich krieg fast ne Stirnzornfalte, als sie abends aufgetakelt beim Grillen auftaucht und ihre Abendgestaltung in Hörweite plant…

Nathalies Abendgestaltung dreht sich um Jungs, Party und damit verbunden sicherlich auch etwas Alkohol, vielleicht auch etwas mehr. Ich halte mich zurück und sehe wie die Internatsgesellschaft mit den Augen rollt. Als Nathalie geht werde ich prompt interviewt, was ich denn davon halte, von diesen aufgetakelten Mädchen, die immer Jungs und Party im Kopf haben (das Schwänzen hat  sich rumgesprochen). Und diese Frage ist wie ein Spot.

Spot an: „Ich denke, dass aufgetakelte Mädchen, die immer nur Jungs und Party im Kopf haben, das gleiche suchen wie alle anderen…“, und ich denke an meine Fastlehrervorbildfunktion „Sie suchen die Liebe, nur vielleicht mit den falschen Mitteln  und auf den falschen Wegen, denn insbesondere auf einer Schule mit rund 70 Prozent Jungs hat man es als hübsches Mädchen, das wenig Selbstbewusstsein hinter massig Glitzer versteckt, nicht immer leicht den richtigen Weg zu finden…“, antworte ich weise wie der Dalailama und habe selbst mich überzeugt. Nun wieder milde, sehe ich die umsitzenden Schüler seriös nicken. 100 Punkte, Weisheit mit Leuchtstift anmarker, Dalailamamodus – jiepiieh!

Drei Perlen zu einer trotz Glitzer nicht ganz so glänzenden. Guter Schnitt, mehr als halb voll, wenn man noch Paolina – meine Adoptivprojektlerin – dazurechnet: Vier zu eins, nicht mal ganz eins, denn Nathalie gelobt Besserung, arbeitet konzentriert und motiviert, sozusagen viereinhalb zu 0 Komma 5, das Glas ist bis auf einen Schluck noch voll, die Röcke fertig, das Leben schön.

reizend

Juni 12, 2011

Man kann reizend mit einem genervt-sarkastischem Unterton sagen, in diesem Fall ist reizend , aber ein schlichtes, einfaches Reizend.

Unweit von „meinem“ – für die Projektwoche annektiertem – Kunstraum ist der Shop. Der Shop ist weniger ein Laden mehr eine Kneipe, eine Schulkneipe. Der Shop wird renoviert. Ein weiteres Projektwochenprojekt. Alex leitet das Projekt, Alex ist 18 und Schüler „der erste Schüler seit acht Jahren, der ein Projekt leiten darf…“, betont er mit unüberheblichem Stolz. Vor acht Jahren – das war zu unserer Zeit – ich erinnere mich nicht, weder an das Projekt noch wer es leitete.

An Alex werde ich mich erinnern, an ihn und an den Rest der Truppe. Paul, Stefan, Joy und Issy.

Ab Tag drei habe ich Halskratzen, Sommerrotz, das kommt davon, wenn man in glückseliger Sommererwartung ohne Jacke reist. An Tag vier ist die Stimme weg. Nicht gut.

Die schmecken bitter, helfen aber, dazu noch die gegen den Geschmack, ansonsten aber null Wirkung und Lemocin für zwischendrin.“ Alex überreicht mir dreimal Lutschtabletten. „Ich darf das, bin in der Sani-PA…“, antwortet er auf meinen fragenden Blick. Sani für Sanitäter und PA für praktische Arbeit, ein Dienst an der innerinternatlerischen Gemeinschaft, jeder braucht eine. Alex hat drei.

An Tag fünf wollen wir nach Fulda zum Stoffkaufen. Paul, der Alines Nesselrock schon ohne Aline so toll findet, dass er angeboten hat, sie zu heiraten, kommt nach dem Frühstück und bietet sich als Fahrer an, nicht ohne zu betonen, dass er ein sicherer Fahrer ist. Und so gelangen wir mit knapp fünf bis zehn kmh über erlaubter Geschwindigkeit heil und sicher nach Fulda und mit Stoff auch wieder zurück.

Nachmittags an Tag sechs fährt mich Stefan ins Dorf zum Eiskauf – muss auch mal sein – und abends kocht Issy. Meine Gruppe ist eingeladen. Es gibt Nudelauflauf und Kuchen, fantastischen Kuchen. Abends einen Tag drauf leistet mir Joy, eine kleine flippige Rothaarige aus der 10, beim Reißverschlusseinnähen in der Kunst Gesellschaft und erzählt frische Internatsgeschichten.

Reizend, schlicht und einfach reizend.

Schönheit in Nessel

Juni 10, 2011

Der beste Moment: Aline vorm Spiegel im Nesselrock und auch wenn Nessel weit davon entfernt ist schön zu sein oder dem Träger Schönheit zu vermitteln, steht sie da mit glänzenden Augen zwischen alten, leicht angeranzten, wenig inspirierenden Werken inzwischen vergessener Schüler und ist schlicht wunderschön. „Er sitzt recht gut…“, es scheint mehr eine Frage als eine Aussage. „Er sitzt wunderbar!“, nuschle ich Stecknadelköpfe zwischen den Zähnen und hab fast Pipi in den Augen, jaja theatralische Momente und so.

Ich bin stolz, stolz wie Oskar und Bolle zusammen, sicher stolzer als die Mädels, auch wenn das fast nicht möglich ist.

Vorgestern – Freitagvormittag – haben sie das erste Mal an Nähmaschinen gesessen. Hochkonzentriert, die Hände in das Teststück Stoff geklammert „führen, nicht halten“, gespenstisch ruhig bis auf ein „Oh mein Gott.“ – alle drei Minuten, „…wenn’s zu schnell wird, Fuß vom Gas wie im Auto…“ mit einem Augenzwinkern. Geraden, Kanten, Kreise, dann Abnäher, Zunge zwischen den Lippen, gefühlte zweihundert Mal Einfädeln – übt. Dann ans große Reale. Grundschnitt erst klein, dann eigene Größe, erst Papier, dann wieder Nessel, sechs Abnäher – harte Schule, rechts auf rechts, dann Anprobe, dann Anpassen, zwischendurch Design und wieder Schnitt diesmal Marke Selbstdesign…

…immer dabei, die Angst zu scheitern, ihre lauter meine leiser, aber nicht minder nervig. Unbegründet: Ich kann das gut, sie auch.

Urlaub als Sachspende

Juni 8, 2011

Hessisches Mittelgebirge; Kurven, die nicht umsonst Bobkurven heißen; Moritz ächzt; im zweiten Gang, gefühlt rückwärts rollend; Geräusche wie ein Ferrari machend – flachlandverwöhnter Kleinwagen kämpft…

Sieg.

Sieg und das mulmig-nervöse Gefühl, von Heimkommen und Fremdsein. Ich weiß wo hier die Tassen stehen, aber ich kenne keinen. Ich bin anfällig für theatralische Gefühle und für alle anderen auch, es gab schon dramatischere Ankünfte, aber auch andere. Unter mein theatralisch-dramatisches Gefühl mischt sich standartmäßig Nervosität und unüblicherweise gesunder Respekt vorm Unterrichten. Unterrichten!

Letztes Jahr um diese Zeit, vielleicht geringfügig früher, habe ich einen sozialen Gedanken habend – und soziale Gedanken sollte man nehmen wie sie kommen, denn niemand weiß so genau um deren Haltbarkeit – beschlossen etwas zurück zu geben. Ich gebe ungern Geld vielleicht, weil das alle können; vielleicht, weil es dazu lockerer sitzen könnte.

 

Ich spende Zeit, Wissen und Tatkraft, ich spende mich für eine Woche. Ich im Urlaub als Sachspende sozusagen.

damals im Internat… – Teil 3

Juni 18, 2010

Als wir, wobei zu sagen ist, dass mit wir meine gesamte Klasse gemeint ist, zur Zehnten in die Oberstufe wechselten, was im Internat einen Umzug in ein neues 40km entferntes Schulgebäude bedeutet, war es nach nicht mehr als drei Wochen so, dass alle unsere Jahrgangsstufenjungs Alkoholverbot hatten.

Wobei zu sagen ist, dass Alkoholverbot eines der schlimmeren Internatsverbote ist insbesondere, da diese neue Freiheit, denn in der Unterstufe ist das Alkoholtrinken nahezu gänzlich verboten, sehr geschätzt wurde. Wie das so mit neugewonnene Freiheiten ist wurde diese bis zum Rand ausgereizt und nach mehreren Randüberschreitungen eingestellt – von der Lehrkörperschaft.

Somit wurde das gelegentliche Alkoholtrinken auf den roten Platz verlegt, wobei zu sagen ist, dass der rote Platz roter Platz heißt, weil es ein Basketballplatz mit rotem, leicht federndem Grund ist.

Wenn ich also des Nächtens ein erschöpftes Kratzen an meiner hölzernen Zimmertür vernahm, wobei zu sagen ist, dass Lehrer klopfen und Schüler kratzen, konnte ich fast sicher sein, dass es einer unserer Jungs war: „Duuuuuuuhu Lies, kannst du mal MF von roten Platz abholen, der ist da noch.

MF ist einer meiner liebsten Schulfreunde und der auffälligste Betrunkene, den sich die Welt vorstellen kann.

MF abholen gehört somit nicht wirklich zu meinen favorisierten nächtlichen Beschäftigungen, da aber nach Alkoholverbotsverstoß, Suspendierung und Kündigung folgt, werfe ich mir über meinen Schlafanzug einen Bademantel, wickle mich in einen Schal, ziehe Schuhe an und verlasse das Schloss. Wobei zu sagen ist, dass mein ehemaliges Internat auf einer stattlichen Anhöhe umgeben von Wald liegt und eben ein Schloss ist.

Je nach Wegwahl geht man auf dem Weg zum roten Platz an drei bis fünf Lehrerwohnungen vorbei, alle mit unterschiedlicher Gefahrenzone, auf jeden Fall aber am Torhaus, dem B-Heim und der Turnhalle und somit weiteren drei Lehrerwohnung, dann ein Stück durch den Wald (toll wenn man nahezu nachtblind ist) und dann noch einmal abbiegen und schon ist man da, im Hellen dauert es rund acht Minuten im Dunkeln brauche ich rund zwölf.

Für den Rückweg… Dazu später mehr.

Auf dem roten Platz sitzt MF zwischen einigen leeren Bierdosen und summt ein Partylied. „Schön, dass du da bist Lies. Hier geht voll die Party…“ „MF, du bist allein.“ „Die kommen alle zurück, die sind nur kurz – ei, wo sind die denn alle?“ „Max wir gehen jetzt ins Bett!“ „In dein Bett?“, MF ist vollkommen schockiert, denn er steht weniger auf mich als mehr auf den blonden burschikosen Typ Frau. „Nein, ich in meins und du in deins.“ „Das ist gut!“, er ist beruhigt und wir tingeln los.

Der Waldteil ist der harmlose Teil.

Kurz vor der Turnhalle beginne ich zu flüstern: „Max? Wir spielen jetzt ein Spiel wir sind jetzt mal ganz leise!“, lang erprobt beginne ich den Kampf einen gut-angeheiterten MF mit dem Drang zum Auffallen an gefühlt dreihundert Millionen Lehrerwohnungen vorbei in sein Zimmer zu schleusen. Max summt: „Wir sind ganz leise, ganz leise…“, dies tut er glücklicherweise ebenfalls ganz leise, ganz leise. 27Meter nach der ersten Lehrerwohnung, der Sportlehrerwohnung in der Turnhalle (fast zu Klischee um wahr zu sein), direkt vorm B-Heim und somit Lehrerwohnung zwei, Lehrer und Lehrerin mit drei kleinen Kindern, der Stelle unser beschwerlichen Reise mit den wenigsten Versteckmöglichkeiten, denn vor uns ist eine Brücke und hinter uns nur ein gut einsehbarer Minispielplatz beginnt MF erneut mit einem „wir sind ganz leise, wir sing ganz leise“, nur singt er nicht mehr ganz so leise sondern weder schön noch leise dafür aber aus vollem Hals.

Neues Spiel, jetzt laufen wir…“, ist meine Ansage dazu und renne MF ziehend bis zum Tor.

Gefühlte drei Millionen Lehrerwohnungen weniger drei. Ich wähle wie meist nicht den Weg mit den wenigsten Lehrerwohnungen, sondern den mit den am wenigsten gefährlichen Lehrerwohnungen. Im dritten Stock des Schlosses befinden wir uns quasi auf der Zielgerade. Ich drücke die Türklinke und nichts passiert, meine Augenbraue geht hoch und ein Wo-ist-der-Schlüssel-Blick zu MF. „Weißt du, wenn ich betrunken bin verlier ich doch immer meinen Schlüssel, deshalb habe ich ihn drin gelassen.“

Grundsätzlich keine schlechte Idee, wäre da nicht der Mitbewohner HB, der um das Spiel des Betrunkenendekorierens weiß und nachdem er – ohne MF – die Party verließ, die Zimmertür mit sich dahinter abschloss. „Du bleibst hier.“, ordne ich im Flüsterton MF an, der sich inzwischen vor die Tür gesetzt hat. Er nickt und ich hole einen Wecker.

Durch einen schmalen Zwischengang gehe ich auf den Balkon der zu drei Schülerzimmern, MFs und HBs eingeschlossen, ich stelle mich auf den Fenstersims und halte den klingelnden Wecker durch das gekippte Fenster. Es klingelt. „Eine Lichtgestalt, eine Lichtgestalt“, ruft HB mir vom oberen Teil des Stockbettes zu. „Lies warum bist du denn so eine Lichtgestalt?“, ja Alkohol tötet Gehirnzellen, hinter mir glimmt eine Laterne, die dort immer glimmt. „HB, MF hat keinen Schlüssel, lass ihn mal bitte rein.“ HB klettert vom Stockbett, nachdem er fast unten ist, klettere ich vom Fenstersims, gehe zurück zu MF und warte auf ein Klinkenklicken, nichts klickt. „Schlafen wir jetzt doch bei dir?

Und alles wieder zurück auf Anfang, durch den schmalen Zwischengang, Fensterbank, der Wecker, das geöffnete Fenster, „eine Lichtgestalt, eine Lichtgestalt“ (nur diesmal eben aus dem unteren Teil des Stockbettes, denn genau so weit war HB wenigstens schon gekommen.

Und endlich – mindestens eine Stunde nach dem Loslaufen – ein lang ersehntes Klinkenklicken…

Nachtrag: „Wobei zu sagen ist…“ dient heute als allumfassendes Stilmittel zur Einbindung von Internatsinterna, die zum Verständnis der Geschichte von Nöten sind….

Bergfahrprivileg und Pathos

Juni 5, 2010

Nach annähernd vier Stunden, einem weiteren Tankstopp, einigen Kassler Bergen und der nimmer enden wollenden Göttinger Baustelle mit den frustrativen Halblächelsmilies „noch 10 km“ stehen uns jetzt zwei Feuerwehrleute und eine improvisierte Schranke im Weg. Internatsfeuerwehr sind wirkungslos in Internatsalltag, die Stunde der Freiwilligen schlägt bei Elterntreffen, Großveranstaltungen und eben Ehemaligentreffen.

Ein Machthasch, empfunden breitschultrig sitzen die Frischvolljährigen am unteren Teil des Berges dessen Spitze unser Ziel ist. Unbestechlich wirken sie und entnervt von den Sprüchen der Ehemaligen, die sie wahrscheinlich schon den ganzen Tag umgeben. „Früher“ als rudimentärer Satzanfang für alles: „Früher haben wir… …und das war ne Zeit.“, „Früher durften wir immer hoch fahren.“.

Früher war nicht alles besser, aber wir erinnern und mit Vorliebe an die besten Zeiten, an die wildesten Parties, an den großartigsten Zusammenhalt, an die geheimsten Verabredungen, an die lustigsten Geschichten – eine Fähigkeit, die auch diesen Internatskindern erhalten bleibt und wenn sie in fünf bis zehn Jahren zurückkehren werden sie unten am Berganfang stehen und sagen: „Früher durften die Ehemaligen immer hoch fahren, bei uns war das noch alles viel besser.“ (Ich lege damit Platz für neue Mythen als die Ehemalige, die immer hoch fahren durfte.)

Ob es an meinem nervösem Lächeln liegt, der Nichtfrühererwähnung, der fortgeschrittenen Uhrzeit oder dem Argument, dass Moritz als Soljankaschüsselchenauto so klein ist, dass es in der Küchenschublade einer Lehrerwohnung parken könnte, das Privileg des Aufdenbergfahrens ist unser.

Moritz der tüchtige Kleinwagen freut sich nur begrenzt…

Steigungen sind nicht so seins und diese Steigung ist auch mit der richtigen Pferdestärke eine Herausforderung. Moritz quält sich bis in die Bobkurve, eine Haarnadelkurve, die ihren Namen von der deutschen Nationalmannschaft hat, die irgendwann – weit vor den 50ern – hier das Bobfahren übte, mit Randaufbauten und allem was dazu gehört (aus der Rubrik: Was der Deutschlehrer noch wusste). Das Miniauto mit der Option auf Schubladenparkplätze nimmt ächzend jene Kurve, deren Namensgrund langsam in Vergessenheit gerät, ich schalte in den ersten Gang, vom schwindenden Tageslicht ist nichts zu sehen, abgeschirmt durch das Blätterdach der Baumkronen schleichen wir uns im Halbdunkel an, immer Richtung Licht, welches aufbricht, sobald man das Schlossgelände erreicht – mehr Pathos geht nicht.

Das Licht bricht auf, ein altbekanntes Bild. Pathos, Pathos, Pathos bis in die Fastunerträglichkeit auf den letzten Metern, ich nutze mein Bergfahrprivileg aufs Gröbste aus und stelle mich vor das sonst immer offene Tor, das heute verschlossen ist um die Feuerwehrunaufhaltsamen wenigstens durch massives Holz zu stoppen. Schwungvolles Einatmen und stoßhaftes Ausatmen, Kleidung gerade Streichen, kurz unauffällig in den Rückspiegel gucken, seltsames Blinddategefühl, welches vollkommen übertrieben ist. Aussteigen.

Das blaue social-networking-F hatte verkündet, dass die Masse der Besucher für mich kaum von Bedeutung wäre. Als ich mich durch die Anmeldung klickte – wenig bekannte Gesichter und noch weniger, bei denen mein Herz gehüpft wäre. Aber mein Herz hüpft!

Ich bin aufgeregt. Mulmiges Gefühl, Brausepulverbauchkribbeln und Vergangenheitsbewältigung mischen sich zu einer Art allgegenwärtigen Lampenfieber. Mein Herz hüpft und trommelt wie ein Duracellhäschen, kurz überlege ich, was passiert, wenn wir (der Rest und ich) uns nichts zu sagen haben, dann höre ich meinen Namen und „Hier hoch zu fahren und wenn dann das Dunkel des Waldes auf bricht und dann das Schloss, wie früher nur anders… …Ich hatte fast Pipi in den Augen.“.

Gruppenzwangpathos!“, denke ich. Und weiß, wir werden uns etwas zu sagen haben.

Autofahren samt Altlasten

Juni 3, 2010

Auf die Autobahn zu kommen war annähernd die größte Herausforderung, noch getopt vom aus der Tiefgarage kommen. Der Lächeljob bringt wenig Macht mit sich, wohl aber die nahezu absolute Macht über die firmeninternen Tiefgaragenplätze, ich bin die Parkplatzsonnenkönigin der Innenstadt sozusagen und habe mit diktatorischem Absolutismus verfügt, dass ich selbst einen Parkplatz für Moritz (Muttis Soljankaschüsselchenauto) und mich erhalte – für Freitag, Reisefreitag, Internatsreisefreitag.

Unsere Tiefgarage ist charmant gesagt petit und hat massig Smartparkplätze. Was beim morgendlichen Reinfahren zu unchristlicher Uhrzeit zwecks Leere kein Problem ist, wird beim Rausfahren eine Herausforderung, denn die reizende Kollegin Frau Otto Nohrmalverbraucher (das „h“ ist gewollt) schenkt mir galant 13 Minuten und ich kurbel mir nen Wolf um den Kleinwagen aus der Lücke zu kriegen möglichst ohne dabei einen der aufgereihten Firmenwagen anzukratzen. Dies scheitert nicht, wohl aber das Tiefgaragenausfahren, denn die Steigung ist zu hoch, er ächzt, ich nehme den ersten Gang, denke daran, dass wir noch durch die Kassler Berge müssen, unsere Reise geht los.

Vorm Männer-Saturn (dazu ein andermal gern mehr) lege ich einen astreinen Boxenstopp hin, der Wagen hält, die Reifen quietschen (keine Sorge Mutti, Kunst der Übertreibung), die Kofferraumklappe springt von Zauberhand auf (Moritz hat da nämlich so einen Ziehhebel neben dem Fahrersitz), das Gepäck vermehrt sich, die Beifahrertür klappt, Gesellschaft steigt zu, die Reise geht weiter.

Neben mir sitzt mehr eine Altlast als ein guter Freund, inzwischen hält es sich die Waage. Ein bisschen nervös bin ich trotzdem, der Verkehr stockt. Hamburger Feierabendverkehr gen Autobahn, wir stehen, bald wird es besser, die Altlast drückt mich – ein Hallo-Drücken.  Ich rede, zu schnell und zu viel, wir sind noch immer vor den Elbbrücken, Reißverschlussverfahren hat in diesem Fall nichts mit schnellen Einfädeln zu tun. Fahren, reden, warten, Auto einschleusen lassen, reden. Ich bin nervös, der Altlasten wegen oder des Treffens wegen, wegen Mittelhessen oder auf Grund von Reisefieber – Gründe gibt’s immer und viele.

Irgendwann war es mal kompliziert und leicht schmerzhaft zwischen der Altlast und mir, irgendwann ist aber schon länger her.

Ich wollte nicht darüber reden, über das komplizierte Ex-Irgendwann, aber ich rede und rede und plötzlich bei Kassel ist alles gesagt. „Ich dich auch.“, und das ist nicht die Antwort auf „ich liebe dich“, sondern die auf „manchmal vermiss ich dich“ und zwar seine. Und dann Schweigen. Die Sonne küsst den grünen Horizont und malt unkritisch pinken Abendhimmel, ihm fällt es auf und schon sind wir wieder da bei dem neoimpressionistischem Kitsch, der mich immer fasziniert hat.

Das ist nicht die Sonne, die unter geht, sondern die Erde die sich dreht…“, summt ein schöner Tomtetext durch meinen Kopf und bringt Realismus ins Abendrot.

  • Magst du mich?“, fragt er.
  • Mehr als mir lieb ist.“, antworte ich und das ist nicht gelogen.

Plötzlich ist alles leicht, Emotionen für tausend, Liebe für einen. Und der eine ist er nicht.

Und es ist wie es ist, die Erde dreht sich, wir sitzen in einem kleinen schwarzen Moritzauto, das mit den Kassler Bergen kämpft, neben uns ein oranger Leuchtball, der in einem rosa Wolkenmeer verschwindet, während der Himmel langsam tiefblau wird – neoimpressionistischer Kitsch, der mich sehr erfreut, etwas tangiert und überhaupt nicht aus der Bahn wirft.

nach Hause kommen

Mai 29, 2010

Nicht ganz, aber doch immer wieder ein bisschen.

Es gibt zweierlei Internatskinder: Kinder, die dort wohnen, und Kinder, die dort leben. Ich war ein Lebeinternatskind, Internat war immer spannend, immer aufregend, immer chaotisch, immer gleich, immer neu. Ich war hier zu Hause. Zu Hause ist da, wo man im Dunkeln die Tassen findet.

Ich fand im Dunkeln die Tassen, Gästebettwäsche, -handtücher und so ist es jedes Mal, wenn ich die Haarnadelkurve im ersten Gang des Moritzautos den Berg nach oben schleiche und das Waldgrün um mich aufbricht ein altbekanntes Bild: Rechts neumodische Turnhalle dahinter ein Minispielplatz für Lehrerkinder, links zwei kleine Fachwerkgebäude alias B-Heim alias Behilfsheim zwecks eines Dachstuhlbrands 1966 erbaut, geradeaus eine kleine Brücke und am Ende eine Steinmauer mit Holztüren so groß, dass ein Kleinlaster gerade noch durch passt. Ein bisschen nervös aufgeregtes, frisch-alt-verliebtes Kribbeln sammelt sich etwas hinter meinem Bauchnabel.

Brausepulverbauchkribbeln und ein bisschen nach Hause kommen, irgendwie.

was machst du eigentlich?

Mai 29, 2010

Die Frage aller Fragen.

Was machst du eigentlich? Nach all diesen Jahren wohl die naheliegeste Frage und doch eine Frage, die bei mir ein kleines Zwischenatmen vorm Antworten erfordert.

Ich habe nicht Modedesign studiert um nun lächelnd zu jobben, irgendwie war das anders geplant und anders erhofft, aber gerade mein Leben scheint ein Schaubeispiel für erstens kommt es anders und zweitens als man denkt zu sein und so kommt erstens immer alles anders und zweitens als man denkt.

Mein Job ist nicht ätzend, zumindest nicht andauernd, aber die Erfüllung!?

Welcher Job ist schon die Erfüllung, in einem Fremdgespräch, das ich belauschte, sagte einer der vielen Ehemaligen „der Schuh, den man gerade trägt, drückt immer…“ Und vielleicht ist da viel Wahres dran und dann denke ich an die Lebensläufe und adretten Halbenglischbetitelungen, mit den die Frage aller Fragen beantwortet wird.

Was machst du eigentlich? Leben – und irgendwas dazwischen.