Okay, es ist ihr letzter Tag in HH, aber ich fall trotzdem gleich von Glauben ab…
Von vorn: In den letzten Monaten ist unser Kontakt etwas eingeschlafen, meine Schwermütigkeit und ihre Leichtfüßigkeit vertragen sich manchmal nicht, außerdem passiert so viel: Ausbildungsende, Verlobungsaus ohne Schmerzen auf ihrerseits (aber das nur fürs Protokoll), neuer Job, noch ein neuer Job und natürlich eine neue Liebe mit einigen Zwischenschritten – alles bei ihr.
Es gibt diese Menschen, die haben nach drei Tagen alles verarbeitet und die Welt ist wieder sonnig oder dreht sich weiter. Ob ich neidisch bin? Vielleicht ein mittelgroßes Quäntchen voll, aber mehr noch als das fassungslos, weil es mir so unbegreiflich ist.
Wir sahen uns wenig, zweimal Mittagessen, eineinhalb Partys, mein Weihnachtsessen, wenige Anrufe, bei einem von diesem erzählte sie von dem Matrosen. „Und ich schrieb ihm dann (per SMS): Ich bin dein Mädchen im Hafen und du mein Mann auf See.“ Ich reiße mich zusammen und kotze nicht in den Telefonhörer.
Neulich eine facebook-Einladung zu einer Party mit angekündigtem Überraschungseffekt.
Ich passe, mir ist nicht so, mir ist nach anderer Gesellschaft. Ich sage ab. Statt Party- also dann telefonischer Überraschungseffekt: „Ich geh aufs Schiff für sechs Monate.“
Es passt wie die Faust aufs Auge, denn der Matrose ist auch auf See, auf einem anderen, aber fast über den gleichen Zeitraum – es ist Schicksal. Was soll es auch anderes sein.
Lange waren wir wie Pech und Schwefel. Als ich bedauere, dass wir uns nicht mehr sehen, erfahre ich: Noch eineinhalb Wochen, eine davon Hochsee-Training in der Februarkalten Ostsee. Nächsten Freitag zum Spanier mit Freunden (Matrosenfreunden), ob ich mit will. Ich will.
Nächsten Freitag: Monstergrippe, bewegungsunfähig und vom Grafen liebevoll auf die Insel verwiesen mit Getränken, Taschentüchern und Curry versorgt. Ich gehe nirgens hin, schon der Weg ins Bad eine Überwindung. Weniger Überwindung kostet es Jammi mich bei meinem Absageanruf zu bitten ihre Klamotten und Bücher ihr Leben in Kisten zu packen – exklusive ihrer Anwesenheit, Kisten sind aber da. Es ist auch nicht viel – ich sage ja und überrasche mich damit selbst.
Jammi und ich treffen uns Dienstag – Schlüsselübergabe und Verabschiedung, ich noch recht lädiert und Jammi auch nicht sonderlich fit. Gestern hat sie den Matrosen an Bord gehen lassen und es schmerzt. Der Schmerz wird nicht lange anhalten – wie sie weiß – denn bald wird sie viel zu tun haben auf ihrer Seereise und wenn viel zu tun ist, man in kleinen Kabinen umringt von vielen ist, vergisst man auch Fernmatrosenweh schnell.
Diese Einschätzung ist realistisch.
Den Schlüssel hat sie vergessen. Dann muss sie los, denn die Zwischenmieterin kommt die Wohnung anschauen.
Verabschiedungsversuch 4, Mittwoch – der letzte Tag in Hamburg – Mittagessen mit ihrer Mutter und dem Hundetier, das Cinderella heißt und mindestens so hysterisch ist, wie der Name vermuten lässt. Die Jammimutter verteilt noch Informationen, zu wann alles wie verpackt sein soll und ich frage mich ob meine Wahrnehmung getrübt ist oder ob das schlicht dreist ist. Der Schlüssel wandert in meine Jackentasche.
Zwei Stunden später. Entscheidung: Meine Wahrnehmung ist nicht getrübt. Ich rufe an und mache mich gerade – für mich.
„Was machst du denn heute Abend?“
„Eigentlich nichts wieso?“ (sie befindet sich mit ihrer Mutter in der Europapassage, Eis essen und Nägel machen – meine Wahrnehmung ist definitiv nicht getrübt.)
Ich erläutere kurz mein Unwohlsein, bei dem Gedanken ihr Leben allein in Kisten zu verpacken und schlage vor, dass wir das ja heute Abend zusammen machen können. Pech und Schwefel – verschiedene Menschen haben verschiedene Fähigkeiten; verschiedene Freunde, verschiedene Aufgaben, meine ist es meinen Mitmenschen zu helfen, ihr Leben in Kartons zu bekommen und Jammi hat noch einen gut.
Das Grübeln ist hörbar. Ich denke, wenn ich gefragt hätte, ob wir noch einmal nett essen gehen, hätte ich eine schnellere Antwort bekommen. „Eigentlich wollte ich beim Matrosen schlafen...“, sagt sie und ich, dass der schon auf See ist. Geruch, Bettwäsche, Erinnerungen und so, wir einigen uns auf zwei Stunden räumen und dann kann sie ja schlafen wo sie will.
Nach der Arbeit bin ich von der leisen Hoffnung beseelt, dass die Wohnung nicht so schlimm aussieht, denn einerseits hat sie gestern der Zwischenmieterin die Wohnung gezeigt und andererseits ist ihre Mutter ja auch da und wenn die nur ein bisschen wie meine Mutter ist, wurde die Wohnung bereits in ihren Grundfesten erschüttert und ein Gewisser Grad von Ordnung her gestellt.
Jammis Mutter ist nicht mal einen Millimeter wie meine Mutter. Sie und Jammi sitzen am Küchentisch zwischen sieben halb vollen Tee- und Kaffeetassen und essen Kuchen. Ich bemühe mich meinen Schock über den Wohnungszustand hinter einem angebotenem Stück Kuchen zu verstecken – klappt ganz gut.
Mit leicht weinerlicher Stimme – ich nehme es an es liegt an dem allumfassenden Abschiedsschmerz und der Angst ihre Tochter könnte von der See für immer verschluckt werden – erklärt die Jammimutter, dass sie es nicht befürwortet, dass wir jetzt noch räumen, wir sollen uns eine Pizza bestellen, sie käme dann die nächsten drei bis vier Wochenenden und kümmert sich um die Wohnung. Zwischenton: Sie opfert sich (kann aber auch in meinem Verständnis von Dreistigkeit liegen). Ich habe nicht den Müh eines schlechten Gewissens, Jammi seltsamerweise auch nicht.
Endlich nach drei Abschiedsfotos im Flur – Mutti mit halb tränenden Augen, Jammi mit rollenden – geht sie.
Ich beschließe: Wir räumen noch ein bisschen. Jammi lässt sich mitziehen – semibegeistert. 90 Minuten, 12 Kisten, einen dreiviertel Schrank, zwei Kommoden, ein Drittel Kosmetikschrank, ein halbes Bücherregal und die mehrfache Verwunderung was und wie wir hier Dinge in Kisten packen später, frage ich zwischen ob sie es schlimm findet, dass ich das nicht allein machen wollte.
„Ich wollte dich mit dieser Bitte nicht überfordern.“
Überfordern? Angemessene Begrifflichkeit? Ich zähle leise bis zehn, aus meinen Nasenflügeln kommen wohldosierte Rauchwölkchen.
„Mutti war auch ein bisschen eifersüchtig, dass ich sie nicht gefragt habe…“
Fassungslosigkeit fast nicht steigerbar.
Und dann doch noch ein bisschen, denn sie wird nicht zurück kehren, in diese Wohnung, die noch voller unsortierter, dreckiger, kaputter Wäsche, voller Schmutzgeschirr, voller halb aufgebrauchter, längst abgelaufener Kosmetika, voller Möbel, voller unsortierter Papiere steht. Die Zwischenmieterin ist die Nachmieterin, die bis zur Rückkehr ersteres ist, denn Seefahrer brauchen staatlich gesehen einen Heimathafen, und anschließend die Wohnung übernimmt, während Jammi und ihr Matrose dann in seine Wohnung nach Altona ziehen.
Ich schmunzle, weil es grotesk ist.
Der Müll bleibt oben stehen, wir nehmen nur die Bundeswehrtasche mit – 23,5kg. Jammi fährt das Auto vor. Wir drücken uns kurz, „gute Reise“, „pass gut auf Hamburg auf“ – Floskeln, wenig Pech und Schwefel.