Autofahren samt Altlasten
Auf die Autobahn zu kommen war annähernd die größte Herausforderung, noch getopt vom aus der Tiefgarage kommen. Der Lächeljob bringt wenig Macht mit sich, wohl aber die nahezu absolute Macht über die firmeninternen Tiefgaragenplätze, ich bin die Parkplatzsonnenkönigin der Innenstadt sozusagen und habe mit diktatorischem Absolutismus verfügt, dass ich selbst einen Parkplatz für Moritz (Muttis Soljankaschüsselchenauto) und mich erhalte – für Freitag, Reisefreitag, Internatsreisefreitag.
Unsere Tiefgarage ist charmant gesagt petit und hat massig Smartparkplätze. Was beim morgendlichen Reinfahren zu unchristlicher Uhrzeit zwecks Leere kein Problem ist, wird beim Rausfahren eine Herausforderung, denn die reizende Kollegin Frau Otto Nohrmalverbraucher (das „h“ ist gewollt) schenkt mir galant 13 Minuten und ich kurbel mir nen Wolf um den Kleinwagen aus der Lücke zu kriegen möglichst ohne dabei einen der aufgereihten Firmenwagen anzukratzen. Dies scheitert nicht, wohl aber das Tiefgaragenausfahren, denn die Steigung ist zu hoch, er ächzt, ich nehme den ersten Gang, denke daran, dass wir noch durch die Kassler Berge müssen, unsere Reise geht los.
Vorm Männer-Saturn (dazu ein andermal gern mehr) lege ich einen astreinen Boxenstopp hin, der Wagen hält, die Reifen quietschen (keine Sorge Mutti, Kunst der Übertreibung), die Kofferraumklappe springt von Zauberhand auf (Moritz hat da nämlich so einen Ziehhebel neben dem Fahrersitz), das Gepäck vermehrt sich, die Beifahrertür klappt, Gesellschaft steigt zu, die Reise geht weiter.
Neben mir sitzt mehr eine Altlast als ein guter Freund, inzwischen hält es sich die Waage. Ein bisschen nervös bin ich trotzdem, der Verkehr stockt. Hamburger Feierabendverkehr gen Autobahn, wir stehen, bald wird es besser, die Altlast drückt mich – ein Hallo-Drücken. Ich rede, zu schnell und zu viel, wir sind noch immer vor den Elbbrücken, Reißverschlussverfahren hat in diesem Fall nichts mit schnellen Einfädeln zu tun. Fahren, reden, warten, Auto einschleusen lassen, reden. Ich bin nervös, der Altlasten wegen oder des Treffens wegen, wegen Mittelhessen oder auf Grund von Reisefieber – Gründe gibt’s immer und viele.
Irgendwann war es mal kompliziert und leicht schmerzhaft zwischen der Altlast und mir, irgendwann ist aber schon länger her.
Ich wollte nicht darüber reden, über das komplizierte Ex-Irgendwann, aber ich rede und rede und plötzlich bei Kassel ist alles gesagt. „Ich dich auch.“, und das ist nicht die Antwort auf „ich liebe dich“, sondern die auf „manchmal vermiss ich dich“ und zwar seine. Und dann Schweigen. Die Sonne küsst den grünen Horizont und malt unkritisch pinken Abendhimmel, ihm fällt es auf und schon sind wir wieder da bei dem neoimpressionistischem Kitsch, der mich immer fasziniert hat.
„Das ist nicht die Sonne, die unter geht, sondern die Erde die sich dreht…“, summt ein schöner Tomtetext durch meinen Kopf und bringt Realismus ins Abendrot.
- „Magst du mich?“, fragt er.
- „Mehr als mir lieb ist.“, antworte ich und das ist nicht gelogen.
…
Plötzlich ist alles leicht, Emotionen für tausend, Liebe für einen. Und der eine ist er nicht.
Und es ist wie es ist, die Erde dreht sich, wir sitzen in einem kleinen schwarzen Moritzauto, das mit den Kassler Bergen kämpft, neben uns ein oranger Leuchtball, der in einem rosa Wolkenmeer verschwindet, während der Himmel langsam tiefblau wird – neoimpressionistischer Kitsch, der mich sehr erfreut, etwas tangiert und überhaupt nicht aus der Bahn wirft.
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Juni 3, 2010 um 7:47 pm
Schluck. Tomte und die Kasseler Berge. Mein Leben.
Juni 4, 2010 um 6:07 am
Schönste Liebeslied, das je geschrieben wurde:
Weißt du was du mir bedeutest,
auf einem Platz in meinem Herz,
steht dein Name an der Wand
und ich will, dass du es erfährst.
Ich werde immer an dich glauben,
egal was auch passiert.
Manche singen von Liebe,
ich sang die ganze Zeit von dir.
(Ich sang die ganze Zeit von dir, Tomte)
Juni 4, 2010 um 7:25 am
Ja, stimmt. Hach.
Juni 4, 2010 um 4:18 pm
Das Lied, der Neokitsch, die komplexen ehemaligen Wegbegleiter, Kleinwagen in Tiefgaragen?
Ich bin verwirrt, liebe Lola.
Juni 6, 2010 um 7:44 pm
Das Lied :)
Juni 7, 2010 um 6:32 pm
Ah, jetzt ja!
Juni 4, 2010 um 8:12 am
Hach. Mehr bleibt mir nicht zu sagen. HACH!
Juni 4, 2010 um 4:18 pm
Frau BlaueSuppe, bitte siehe Text an Lola und fühle dich ebenfalls angesprochen… Kryptisches Kommentargut!
Juni 4, 2010 um 9:07 am
Seufz. Kenn ich und wir mussten auch öfter durch die Kassler Berge.
Juni 4, 2010 um 4:20 pm
Ja, die Kassler Berge eine Herausforderung für jeden Kleinwagen…
Juni 4, 2010 um 9:15 am
Sie erzählen aber auch immer schöne Geschichten! Hab ich sehr gern gelesen!
Juni 4, 2010 um 4:19 pm
Vielen Dank… Das freut mich sehr.
Juni 4, 2010 um 4:43 pm
Sie sind wirklich eine tolle Geschichtenschreiberin, vielleicht sollten Sie es mal mit einem Buch versuchen?!
Juni 4, 2010 um 11:06 pm
Vielen Dank und mal sehen, ob mir eins über den Weg läuft!
Juni 4, 2010 um 5:52 pm
Eine Geschichte aus dem Leben – wunderschön mit vielen Gefühlen – die ich sehr gerne gelesen habe. Zweimal …
Liebe Grüße
Juni 4, 2010 um 6:57 pm
Ui, ein Wiederholungstäter…
Juni 6, 2010 um 1:31 pm
…*ganztieferseufzer*…so schön!
Juni 7, 2010 um 11:02 pm
Sehr schön…
Juni 8, 2011 um 4:00 pm
[…] keinen. Ich bin anfällig für theatralische Gefühle und für alle anderen auch, es gab schon dramatischere Ankünfte, aber auch andere. Unter mein theatralisch-dramatisches Gefühl mischt sich standartmäßig […]
September 7, 2011 um 12:53 pm
[…] zwei hat zu und so fahren wir am frühen Nachmittag todesmutig gen Innenstadt, was nur wegen meines Parkplatzsonnenköniginnendaseins eine gute Idee ist. Im Brautmodenladen drei herrschen zwei Damen mit russischem Akzent, die Friesin […]